Brückners Zeitzeichen
Vorsicht, Satire: Das „Uhren-Virus“ grassiert
Dieser Erreger steckt voller Geheimnisse und entzieht sich jedweder rationalen Beurteilung. Keiner weiß, woher er kommt. Und niemand vermag zu sagen, wo und wie man sich mit ihm infiziert. Noch viel mysteriöser mutet derweil die Tatsache an, dass – wer ihn sich erst einmal eingefangen hat – ihn nur in den seltensten Fällen wieder loswerden möchte. Immer wieder gestehen mir ansonsten nüchtern kalkulierende Zeitgenossen von strotzender Gesundheit, sie seien von einem seltsamen „Uhren-Virus“ befallen – und dächten gar nicht daran, etwas dagegen zu unternehmen. Ich begann sofort mit den journalistischen Recherchen, sprach mit Fachleuten und Betroffenen, stöberte in Büchern und verbrachte Stunden im Internet, um Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, erste belastbare Befunde vorlegen zu können. Sie beruhen darüber hinaus auf jahrelangen Selbstversuchen. Wo und warum das „Uhren-Virus“ ausbricht, bleibt zwar nach wie vor rätselhaft, doch belegen meine Forschungsergebnisse zweifellos, dass es mindestens vier Stadien der „Uhren-Virus-Infektion“ gibt, die unterschiedliche Therapieansätze notwendig machen.
Bei einer Infektion ersten Grades nehmen sich die Symptome zunächst noch harmlos aus. Der Betroffene schafft es zum Beispiel nur unter Aufbietung all seiner Willenskraft, die Auslagen eines Juweliers zu ignorieren. Das gelingt freilich nicht immer. Ist die Ehefrau oder Freundin nicht dabei, sind Infizierte ersten Grades sehr oft damit beschäftigt, sich an den Schaufenstern die Nasen platt zu drücken, um den ausgestellten neuesten Uhrenmodellen möglichst nahe zu sein. Diese Menschen sind häufig auf den Seiten von TrustedWatch zu finden. Der gelegentliche Kauf einer Uhr verspricht in dieser Phase noch nachhaltige Linderung. Im Urteil anderer Zeitgenossen gelten Infizierte ersten Grades als „ein bisschen verrückt“, aber noch ganz sympathisch.
Im weiteren Verlauf der Infektion verschärft sich die Symptomatik. Das Lesen von TrustedWatch.de wird zur täglichen Pflicht. Gelegentlich besuchen Befallene zweiten Grades auch Uhrenauktionen und –messen, beim Juwelier ihres Vertrauens zählen sie schon zu den Stammkunden. Wie ein erfahrener Top-Hotelier zur Beurteilung der Bonität eines Gastes zuerst auf dessen Schuhe schaut, blickt der Infizierte auf das Handgelenk seines Gegenübers. Der Umfang seiner Uhrensammlung übersteigt die Zahl der Finger seiner beiden Hände erheblich. Sollte ein Infizierter zweiten Grades in einer Partnerschaft leben, so entwickelt er höchst kreative Strategien, um den Kauf einer neuen Uhr gegenüber seiner Lebensgefährtin zu rechtfertigen („Schatz, das ist doch eine sichere Geldanlage“). Oder er bestreitet schlichtweg die Neuanschaffung („Die Uhr ist doch schon steinalt. Muss dringend mal zur Wartung“). Weniger Uhren-affine Mitmenschen schütteln nur noch ihre vernunftgesteuerten Köpfe über ein solches Ausmaß an Verrücktheit. Als probate Therapie empfiehlt sich der häufige Kauf von Uhren. Risiken und Nebenwirkungen: Magersucht des Budgets und der finanziellen Reserven. Mitunter lassen sich die Symptome mithilfe eines „Gegengiftes“ stoppen. Häufig kommen hierfür Oldtimer- oder Bordeaux-Viren zum Einsatz. Das Risiko besteht bei dieser Forum der Therapie darin, dass am Ende mehrere Infektionen gleichzeitig ausbrechen.
Als weitgehend untherapierbar gelten Infizierte dritten Grades. Sie verlassen die Seiten von TrustedWatch.de nur noch zur Nahrungsaufnahme und zum Geldverdienen. Sie lesen alles, was zum Thema Uhren auf den Markt kommt, zahlen einmal pro Jahr horrende Eintrittspreise, um die neuesten Zeitmesser in Basel bewundern zu können (und um zu wissen, wofür sie spätestens im Herbst ihr Geld ausgehen werden), sind auf beinahe allen Auktionen und Messen vertreten und stellen irgendwann fasziniert fest, dass man nicht nur Armbanduhren, sondern auch Taschenuhren und Großuhren sammeln kann. Probleme mit der Partnerin entstehen in dieser Phase nicht mehr, denn diese dürfte längst den Überblick über das Uhrenportfolio ihres Gatten oder Freundes verloren haben. Infizierte dritten Grades können grundsätzlich nur noch in Räumen schlafen, in denen sie auch nachts noch das Ticken mehrerer Uhren hören. Therapiechancen bestehen nun kaum noch, zumal die Infizierten ihren Zustand genießen. Bei Nachbarn, vermeintlichen Freunden und Kollegen löst dieses Verhalten in vielen Fällen Neidkomplexe aus. Vermehrt gehen anonyme Hinweise bei den Finanzämtern ein.
Der Infizierte vierten Grades ist absolut untherapierbar. In dieser Phase fangen manche sogar an, eigene Uhren zu bauen. Dies beginnt meist mit dem Besuch von Uhrmacher-Seminaren. Ein Tag ohne TrustedWatch kann diese Menschen in Extremfällen zum Wahnsinn bringen. Der schnelle Kauf einer tollen Uhr – sei es beim Juwelier, sei es im Internet – leistet in dieser Situation Erste Hilfe. Fiskalische Schnüffeleien haben diese Zeitgenossen immerhin nicht mehr zu befürchten. In dieser Phase weicht der Neid dem Mitleid.
Verehrte Leserinnen und Leser, ich verdanke diese Erkenntnisse meinen Recherchen für mein neues Buch SpUHRENsuche, das am Nikolaustag des Jahres 2010 erscheinen wird. Sie werden darin viele Infizierte kennenlernen. Doch Vorsicht: Sie können sich auch anstecken! Das Ergebnis meiner Selbstversuche führte mich zu der Erkenntnis, dass ich irgendwo zwischen dem dritten und vierten Grad angelangt bin. Downgrade ausgeschlossen.